Selektiver Mutismus und Nachteilsausgleich - Eine Erfahrung

Ist ein Nachteilsausgleich bei selektivem Mutismus hilfreich?

Selektiver Mutismus und Nachteilsausgleich - Eine Erfahrung

Als ich in der dritten Klasse die Diagnose selektiver Mutismus, bzw. wie es offiziell im ICD-10-Katalog noch heißt elektiver Mutismus, bekam, war einerseits eine Erleichterung da - das Ding hatte einen Namen. Ich wurde dann auch zum Psychologen geschickt, der mir helfen sollte, aus dem Mutismus herauszukommen. In der Schule hat sich erst einmal nichts geändert. 

Die Klinik, bei der ich zur Diagnostik war, riet ausdrücklich von einem Nachteilsausgleich ab, da dieser das Schweigen aufrechterhalten würde. Soweit so gut. Die Lehrerin verstand darunter allerdings, dass sie mich weiter unter Druck setzen dürfe oder müsse, um mich zum Sprechen zu bewegen. Dies führte soweit, dass sie mich einmal vor der ganzen Klasse bloßstellte. Darauf jetzt näher einzugehen, würde allerdings den Rahmen sprengen und ist einen eigenen Artikel wert. Hier soll es um das Thema Nachteilsausgleich gehen.

Wie bereits erwähnt hatte ich in der Grundschule noch keinen Nachteilsausgleich. Auch nach dem Übertritt auf die Realschule bekam ich noch nicht sofort einen. In den ersten beiden Jahren reichte das Gutachten aus der Klinik. Die Lehrer ließen mich dann mündliche Aufgaben schriftlich erledigen, beispielsweise durfte ich die Antworten bei einer Ausfrage auf einen Zettel schreiben oder für Referate eine schriftliche Ausfertigung abgeben. Nun im Nachhinein betrachtet war es ein Nachteilsausgleich, nur nicht offiziell von höherer Stelle erstellt. Da ich alle Arbeiten, die meine Mitschüler erledigen mussten, auch tun musste, wurde ich auch akzeptiert in der Klasse. Eine Befreiung von irgendwelchen Aufgaben fand nicht statt. Ich war Teil der Klasse und wurde miteinbezogen; machte ich Unsinn mit meiner Sitznachbarin und passte im Unterricht nicht auf, war auch die eine oder andere Strafaufgabe dabei. 

In der 7. Klasse reichte der Schule das Gutachten nicht mehr - es gab zwischenzeitlich einen Wechsel der Schulleitung - und ich musste erneut zur Diagnostik, von da an alle zwei Jahre. Jetzt mussten wir beim Ministerialbeauftragten einen Nachteilsausgleich beantragen. Dieser war mehrere Seiten lang und enthielt neben der Bedingung, dass ich eine Therapie mache, Vorschläge, wie die mündliche Notengebung aussehen kann. Im Grunde genau das, was bereits in dem alten Gutachten stand bzw. meine alten Lehrer bereits umgesetzt hatten.

Hier begann jedoch das Problem. Meine neuen Lehrer - allen voran die Klassenleitung - hielten sich nicht daran. Ich wurde im Unterricht ignoriert, als mündliche Note wurde mir standardmäßig eine 3 eingetragen, vermutlich für die Anwesenheit. Bei Referaten, Gruppenarbeiten etc. wurde ich außen vor gelassen. Nun, für Referate wurde ich befreit. Dass ich bei Gruppenarbeiten nicht beachtet wurde, war eine Folge davon, da ich aus Sicht der Mitschüler einen Sonderstatus hatte und ich "eh nichts mache". 

Vier Jahre lang ging das so. Kein Lehrer kam je auf die Idee, dass diese Sonderbehandlung der Grund für den Ausschluss war, falls sie denn überhaupt bemerkten, dass ich ausgeschlossen war. Im Nachhinein betrachtet war dies auch kein Nachteilsausgleich sondern ein Notenschutz. Denn ich musste viele Leistungen schlichtweg nicht erbringen. Gut, eine Note bekam ich trotzdem. Es war eben offiziell nur ein Nachteilsausgleich, auch wenn er im Unterricht gehandhabt wurde wie ein Notenschutz.

Ich frage mich jedoch, wozu ich mich in Therapie begeben hatte - was Bedingung des Nachteilsausgleiches war -, wenn die Schule ihrer Pflicht aus dem Nachteilsausgleich - die mündliche Bewertung in anderer Form durchzuführen - nicht nachkam. Nun, eine andere Form war es gewiss, für die Anwesenheit eine 3 einzutragen; allerdings keine, die im Sinne des Nachteilsausgleichs gewesen ist.



So komme ich zu meinem Fazit, dass ein Nachteilsausgleich bei Mutismus allgemein betrachtet nur als Unterstützung angesehen werden sollte und das Ziel sein sollte, ihn schrittweise abzubauen. Dazu braucht es viel Kooperation, Unterstützung und Mitarbeit von allen Seiten. Lehrer, Therapeuten, Betroffener, Eltern und Mitschüler müssen eng zusammenwirken, um das Schweigen zu durchbrechen. Ganz oben steht das Vertrauen. 

Möglichkeiten, die schrittweise umgesetzt werden können, sind zum Beispiel schriftliche Ausfertigungen/Abfragen, später bzw. wenn es möglich ist Referate per Video, welches dem Lehrer (oder wenn möglich der Klasse) dann vorgespielt wird; Referate nur vor dem Lehrer (evtl. wenn vorhanden mit Bezugsperson). Die Digitalisierung bietet so viele Möglichkeiten im Hinblick auf mündliche Leistungen von Mutisten - man muss sie nur nutzen, auch wenn es viel Zeit und Geduld kostet. Es lohnt sich.




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