Verlockende Stille
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Es ist ein Recht der Jungen, dass wir Alten uns nicht entmutigen lassen, sondern unsere Erfahrungen und unsere Erkenntnisse an sie weitergeben.

Verlockende Stille

Es fällt mir mit zunehmendem Alter schwerer, die Dinge beim Namen zu nennen. Nicht, weil ich ihre Namen nicht wüsste, sondern weil ich sie schon so oft wiederholt habe. Die Quelle in mir, die mich all die vergangenen Jahrzehnte ermutigt hat, wieder und wieder geduldig die gleichen Sachverhalte aufzuzeigen, zu erklären, zu deuten, gluckert an manchen Tagen nur noch rinnsälig vor sich hin.

Es kostet mich heute mehr Kraft als früher den zukunftstragenden Sinn hinter meinem Engagement zu erkennen und ihn als Motivationsbeschleuniger anzuzapfen. Es ermüdet, wenn man sieht, wie mühsam Entwicklung bei den Menschen läuft, wie träge Erkenntnis sich verbreitet und welchen depperten Abzweigungen und welchen erbärmlichen Rückschritten sich Menschlichkeit tänzelnd weltweit hingibt.

Auf der anderen Seite lernte ich doch, dass man eigene Erfahrungen nicht eins zu eins an die Nachkommenden weitergeben kann, sondern jeder Mensch seine eigenen machen und selbstständige Schlüsse daraus ziehen können muss. Und dann schreibe und rede ich wieder in der Hoffnung, hilfreich kleine Puzzleteile zum eigenständigen Denken an die Hand geben zu können.

Jedoch ermüde ich schneller und lasse mich fallen in eine Stille in mir, die ich als wohltuend und schützend empfinde. Nur das Lächeln meiner Enkelin durchbricht diese Stille dann. Sie, mit ihren klugen fragenden Augen, mit ihrer nie versiegenden Neugierde und ihrem unbändigen Willen, die Welt zu verstehen und in ihrem Sinne zu gestalten. Dann weiß ich wieder, warum ich die Namen der Dinge und ihre Bezüge zueinander auch noch hunderttausend Mal wiederholen werde.

Es ist das Recht der Jungen, dass wir Alten uns nicht entmutigen lassen, sondern unsere Erfahrungen und unsere Erkenntnisse an sie weitergeben. Auch wenn es nervt, auch wenn es oft nur ein Kopfschütteln oder gar ein Abwenden auf Seiten der Jungen auslöst. Es sind ja keine Wahrheiten, die wir da verkünden, sondern ganz subjektive Lebenserfahrungen, getrübt oft durch starre Wahrnehmungsfilter. Doch auch und gerade im Dialog mit den nachfolgenden Generationen könnten auch diese sich wieder neu kalibrieren und wir hätten eine Win-win-Situation.

Ach, welch schöne Gedanken und Worte. Was jedoch ist mit den älteren Menschen, die sich in schrecklichen, gewaltverherrlichenden, Gedankengebäude verlaufen oder fest eingemauert haben? Sollten die Jungen ihnen zuhören? Ja, natürlich! Nur so haben sie die Chance zu verstehen und aus den gemachten Fehlern der Altvorderen zu lernen.

Rückzug, Schweigen, die Verweigerung eines Dialoges sind Alternativen für gar nichts.   
 



1 Kommentare

Reiwa 5 year ago

Sehr interessanter Text