Was ich gerne für dich wär
Ein Generationen-Vertrag der besonderen Art
Wie schön, du besuchst mich, mein Kind! Ich freue mich unendlich, dass du da bist – hier bei mir, wo deine Kindheit und deine Jugend ein Zuhause haben.
Ich sehe dich, umarme dich und meine Gedanken gehen auf die Reise in die Vergangenheit. Hab bitte Nachsicht, mein Sohn. Mein Leben war so reich an Erlebnissen und Erfahrungen. Reich an Lebenslektionen und glücklichen Momenten! Sie sind mir gegenwärtiger als das Gestern oder Heute, denn sie haben tiefe Spuren in meiner Seele hinterlassen. ich bitte dich, hab Geduld, meine Tochter. Meine Vergangenheit hat aus mir den Menschen gemacht, der nun vor dir sitzt und ich möchte so gerne, dass du verstehst, wie ich so wurde.
Schau mich an, sieh meine Falten, die das Leben in mein Gesicht zeichnete. Sie alle sind Zeugnisse vieler Jahrzehnte, modellierten mein sichtbares Äußeres und erst recht mein verborgenes Inneres. Meine mir verbleibende Lebensspanne berechnet sich nicht mehr in großen Schritten. Es werden nun die kleineren sein, die mir noch bleiben und ich möchte sie groß und liebevoll ausschmücken mit den Erinnerungen meines Lebens.
Wenn ich dir wieder einmal von den Erlebnissen meiner Kindheit berichte, so hab Geduld mit mir. Denke einfach daran, wie oft du mir in deiner Jugend die immer gleichen Fragen stelltest und ich sie dir stets von neuem in aller Ruhe beantwortete. Jetzt und heute ist mir wichtig, dich mitzunehmen in meine Vergangenheit, denn dort wurzeln mein Herz und meine Seele. Die Geschichten meiner Zeit werden immer präsenter, je älter ich werde.
Hab Nachsicht mit mir und höre mir lächelnd zu, auch wenn ich mich wiederhole und du die „alten Geschichten“ fast auswendig kennst. Es ist mir so wichtig, dir davon zu berichten! Du kamst erst in mein Leben, als ich schon eine prägende Strecke Wegs gegangen war. Vieles wirst du vielleicht nie nachvollziehen können von dem, was ich dir zu sagen habe… Aber so wie deine junge Welt für uns, deine Eltern, eine „fremde“ Welt war, so sind es für dich unsere jungen Jahre. Wir haben deine Musik und deine Sprache nicht verstanden, deine Ansichten waren uns fremd und deine ganze Lebenseinstellung auch. Du hattest das Glück, in einem Land groß zu werden, das keinen Krieg mehr kennt, keinen Mangel an Nahrung und in dem viele Türen zu neuen Lebensentwürfen offen stehen.
Meine Jugend war durch gänzlich andere Umstände geprägt und es ist wichtig, dass du verstehst, mein Kind. Verstehst, warum meine weit zurückreichenden Erinnerungen so klar vor meinem inneren Auge sind, doch was ich gestern zu Mittag hatte, mir entfallen ist. Es war mir nicht wichtig genug, um es abzuspeichern, mein Sohn!
Dieses Mittagessen hat mich nicht weiter beeinflusst, hat nicht mein Inneres so berührt, dass ich es mir unbedingt merken musste.
Doch die Erinnerungen, meine stillen Wegbegleiter, hatten und haben Gewicht und es zu tragen, fällt mir leichter, wenn ich es mit dir teilen kann. Meine Tochter, es tut mir gut, wenn du bei mir bist, ganz besonders, wenn du Geduld und Nachsicht im Gepäck hast. Sieh in mir bitte nicht den alten Menschen, dem zu lauschen jedes Mal anstrengender wird.
Ich wäre dir so gern dein ganz persönlicher Erzähler, deine Scheherazade mit einem Buch randvoll für 1001 Nacht. In alten Märchen versteckt, verbirgt sich immer eine tiefe Wahrheit, in meinen Erzählungen sind die Wahrhaftigkeiten kaum von schmückendem Beiwerk überdeckt.
Ich wäre für dich so gern ein Pfadfinder für die verwinkelt-verwunschenen Wege durchs Leben. Ein Beispiel dafür, wie viel man ertragen kann, ohne daran zu zerbrechen – sondern vielmehr an allen Lektionen der Jahre voller Last und Mühen wächst und reift wie ein guter Wein.
Ich wäre dir so gern mit meinen Erinnerungen ein lebendig-geliebtes Geschichtsbuch, das du gern aus dem Regal nimmst. Mit dem du es dir gemütlich machst, den kaschmirweichen Schal des Behütet-Seins um die Knie gewickelt und den heimelig dampfenden Kaffeebecher in Händen.
Komm, setz dich zu mir, mein Kind, und lass uns einander sein, was wir uns immer waren.
Lass uns einen Vertrag besiegeln – wie früher mit einem Handschlag, der zu meinen Zeiten wichtiger war als ein unterschriebenes Stück Papier – in dem geschrieben steht, was ich gerne für dich wär und dass du mir die Chance dafür gibst. In Liebe und Vertrauen, jeden Augenblick wertschätzend – denn wir kennen weder Tag noch Stunde.
1 Kommentare
Ralf Kellmereit 5 year ago
Ein ganz wundervoller Text, liebe Petra! Vielen Dank dafür :-))