Die sprachlose Generation

Da ist ein schreiendes Schweigen, das mich meine ganze Kindheit über begleitete.

Die sprachlose Generation


„Meine Mutter. Wie muss das gewesen sein, 1956, als junge Frau mit einem Kind im Bauch, das unehelich auf die Welt kommen würde? War da Liebe? Gab es da überhaupt Raum für Freude? Wann hat sie es der Familie gesagt? War da ein Streicheln und Summen durch die Bauchdecke hindurch? Die Geburt? War sie da alleine? War da dann ein Willkommen, vor dem Verleugnen? Sie hat es mir nie erzählt. Ist diesen Fragen immer ausgewichen, bis zum Schluss. Es hat sehr lange gedauert, bis ich ihr sagen konnte: Ich bin gerne deine Tochter und ich danke dir dafür, dass du mich hast leben und überleben lassen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie es wirklich verstanden hat. Da waren so viel elendige verwobene Scham und Schuld und Zorn in ihr. Und dieses tiefe Schweigen, das sich durch ihr ganzes Leben zog.“

Sie gehörte zu der Generation der Frauen in meinem Umfeld, die nie, aber wirklich nie über die Zeit des Krieges und über die Jahre danach gesprochen hat. Wie hat sie diese Zeit erlebt? Ihre Träume, ihre Ängste, ihre Enttäuschungen, ihr Schmerz, überhaupt all ihre Gefühle. Sie war doch noch ein Kind damals. Ihre Mutter starb und sie musste zu einer fremden Familie in Obhut, denn der Vater war ja an der Front. Diese fremde Familie wurde dann ihre Familie, da der Vater mit der Frau und deren Kinder nach dem Krieg zusammenlebte. Was hat dies alles mit ihr gemacht? Sie hat niemals darüber gesprochen. Wie ist das, wenn man das all die Jahrzehnte mit sich schleppt? War da irgendjemand, dem sie sich anvertrauten konnte? Ihr Vater? Mein Vater? Ihren Freundinnen? Wohl eher nicht. Haben zumindest die Frauen der Familie untereinander darüber gesprochen? Ich bekam zumindest davon nichts mit.

Ja, es gibt auch Fotos aus diesen Zeiten, auf denen sie lacht. Aber, ich habe auch Geschichten, Erzählungen von Bekannten aus diesen Jahren, die anderes berichteten. Mit hat sie nie etwas davon erzählt, obwohl ich sie mit zunehmendem Alter und Wissen immer wieder fragte. Sie hat immer abgelenkt und dann war da so ein Zorn in ihrer Stimme und so eine tiefe Traurigkeit in ihren Augen. Diese Tür war und blieb immer zu.

Und die Männer in meiner Familie? Mein Großvater erzählte mir vom Krieg und von der Nazidiktatur. Schonungslos in seiner bildgewaltigen Offenheit. Und doch so erschreckend distanziert. Seine Gefühle galten nur den anderen, über seine eigenen erfuhr ich nichts. Da war nur Schweigen. Es war ihm egal, dass ich da manchmal in meiner kindlichen Seele überfordert war und für und um ihn und all die anderen Menschen nächtelang weinte.

Sie alle sprachen nicht über eigenes Vergangenes. Und doch schlichen sich all ihre verschwiegenen Gefühle in den Alltag ein und in meine Seele. Das prägte, da bin ich mir sicher.

Würden sie es mir heute erzählen? Würden sie mir sagen können, was dies alles mit ihnen innen drinnen gemacht hat? Ich weiß es nicht. Aber ich rede mit ihnen. Versuche, in den inneren Dialogen, ihnen eine Stimme zu geben und meine Gefühle von den ihrigen zu entwirren.

Ich wäre froh, wenn wir mehr Zeit zusammen gehabt hätten.
 



0 Kommentare