Gefühle wollen beachtet werden
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Die meisten unserer Gefühle, seien sie auch noch so stark im Ausdruck, sind gesunde und adäquate Reaktionen

Gefühle wollen beachtet werden

Nicht jede Traurigkeit ist eine Depression.
Nicht jede Müdigkeit ist ein Burnout.
Nicht jeder Stimmungswechsel ist ein Symptom.
Nicht jeder Gefühlsausbruch ist eine Dissoziation.
Nicht jede Ängstlichkeit ist eine Paranoia.

Manchmal erscheint es mir so, als hätten wir verlernt die Bandbreite, Differenziertheit, Widersprüchlichkeit, Gleichzeitigkeit unserer Gefühle als etwas „Normales“ anzunehmen. Als gäbe es eine Gefühlsskala, deren seichte Mitte zu erreichen und zu halten, das einzig selig machende Ziel unseres Bestrebens sein müsse.
 
Da kommen Menschen zu mir und erzählen mir ihre Geschichten und ängstigen sich über ihre anscheinend überbordenden und widersprüchlichen Gefühle. Sie sind traurig, wütend, schamvoll, zornig, empört, verletzt und vor allem zutiefst erschreckt und verstört über diese emotionale Vielfalt in ihnen und formulieren den Wunsch: „Ich will diese Gefühle so nicht. Das muss etwas Krankhaftes sein. Sie sollen weg!“
 
Wenn wir uns dann die dahinter liegenden / auslösenden Situationen genauer anschauen, dann stellen wir oft mit Verwunderung fest, dass diese Gefühle doch sehr passende und adäquate Gefühle waren und/oder sind. Denn es gab/gibt ja gute Gründe dafür traurig, wütend, verletzt und empört, ängstlich, erschöpft und vieles mehr zu sein.

Diese Gefühle sind nicht per se der Ausdruck einer psychischen Krankheit, sind keine eindeutigen Hinweise auf Paranoia, Depression, Burnout oder sonstige Krankheitsbilder aus der psychologischen Wunderkiste, sondern in der Regel gesunde Reaktionen auf Zustände, die eben genau das waren oder sind: Schmerzend, verletzend, ungerecht, erniedrigend, Angst machend, ermüdend, aufreibend, hoffnungslos erscheinend.

Auf der Gefühlsseite gibt es da nichts zum Wegmachen. Im Gegenteil. Schenken wir den scheinbar störenden Gefühlen endlich freundliche Beachtung, hören wir ihnen zu und lassen wir sie unsere Führer sein in der Aufarbeitung alter reaktiver, aber noch viel mehr auch in der Erprobung und Setzung neuer aktiver Handlungsmuster. Sie sind gute und hilfreiche Ratgeber.
 



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